Wer ist der, so von Edom kömmt

Wer ist der, so von Edom kömmt“ – dass sich hinter diesem ungewöhnlichen Titel eine Vertonung der Passionsgeschichte Jesu aus der Mitte des 18. Jahrhunderts verbirgt, ist auf den ersten Blick nicht zu erwarten. Diese Musik hat mindestens vier Komponisten, weder Ort und Datum einer Erstaufführung, keine Partitur von letzter Hand, stellenweise für uns heute schwer nachvollziehbare Texte – und bietet wunderbare Musik.

Carl Heinrich Graun, ein auch von Johann Sebastian Bach hoch geschätzter Komponist, komponierte um 1735 in Braunschweig die Passionskantate „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“, ein Werk, das schnell bekannt und weit verbreitet wurde. Um 1750 hat ein unbekannter Bearbeiter die Kantate in zwei Teile gegliedert, um elf Sätze erweitert und drei Choräle Grauns gestrichen. An den Anfang dieses Pasticcios (deutsch: Pastete – für Werke, in denen Musikstücke mehrerer Komponisten zu einem neuen Werk zusammenfügt werden) stellte er den ersten Satz sowie den Choral einer Kantate von Georg Philipp Telemann, die damals schon etwa 35 Jahre alt war. Die anderen Veränderungen betreffen den zweiten Teil: Er wird mit einer Choralbearbeitung von Bach eröffnet. Vermutlich von Bach stammen auch zwei weitere Sätze, während sechs zusätzliche Choralstrophen des Liedes „Christus, der uns selig macht“ bisher keinem Autor zuzuordnen sind.

Die ursprüngliche Partitur dieses Pasticcios ist verloren. Erhalten ist eine davon erstellte zeitgenössische Abschrift, die sich im Besitz von Carl Philipp Emanuel Bach befand und die Hauptquelle für die heutige moderne Ausgabe und unsere Aufführung ist.

Die Sänger des Stadtsingechores haben unter der Leitung von Clemens Flämig die Passionskantate einstudiert. In Vorbereitung der Aufführung, die gemeinsam mit Solisten und dem Händelfestspielorchester stattfinden wird, habe ich Herrn Flämig zu seiner Beschäftigung mit dieser Musik Fragen gestellt.

Wie kam es zur Entscheidung für dieses Pasticcio?

Der Stadtsingechor hat im Gegensatz zu vielen anderen Chören die Freiheit, sich in der Repertoirewahl gelegentlich abseits der oft betretenen Pfade zu bewegen. Bei der Suche nach einem geeigneten Werk aus dem 18. Jahrhundert für unser Passionskonzert bin ich bei dieser ungewöhnlichen Zusammenstellung hängen geblieben. Ausgangspunkt für meine Stückwahl ist in der Regel weniger ein Komponistenjubiläum oder ähnliches, sondern neben der Struktur eines Werkes vor allem die Frage: Was ist für uns als Knabenchor in der konkreten Situation des Chorjahres gut zu leisten?
Spannend ist bei dieser Passion nicht nur die Komposition selbst, sondern auch ihre Geschichte, ihre verschiedenen Varianten. Bei der näheren Beschäftigung konnte ich erkennen, dass der Umgang mit der Leidensgeschichte Jesu nicht nur für uns eine aktuelle Frage ist, sondern auch vor mehr als 250 Jahren von jedem Ausführenden wieder neu bedacht wurde.
Die Auseinandersetzung mit weniger oder so gut wie nicht bekannten Werken, gerade aus dem Bereich der Passionsmusiken, sorgt außerdem dafür, dass sich der Blickwinkel auf die oft gesungenen Passionen Bachs ändert. Anders gesagt: Erst jetzt bemerkt man, wie fixiert man auf die Bachschen Passionen ist und muss sich fragen, wie frei man im Erleben anderer, Nicht-Bachscher Musik eigentlich ist. Diese Musik von Graun, ergänzt durch Musik von Telemann, Bach und einem anonymen Meister ist es unbedingt wert, mehr gehört und aufgeführt zu werden!
Und dennoch – ein wenig gehört die Bachsche Musik auch zu den Auslösern der Entscheidung, dieses Pasticcio aufzuführen: Der zweite Teil wird mit Bachs Choralchor „Herr Jesu Christ, wahr’ Mensch und Gott“ eröffnet. Und kurz vor dem Ende gibt es den großartigen Chor „Der Gerechte kommt um“. Es ist eine bekannte Motette eines unbekannten Komponisten (vielleicht Johann Kuhnau), die höchstwahrscheinlich von Johann Sebastian Bach bearbeitet und instrumentiert wurde. Diese beiden Stücke mit dem Stadtsingechor zu musizieren ist schon länger mein Wunsch gewesen.

Schauen wir die Textgrundlage von Grauns Passionskantate an, so haben wir hier eine andere Textform vorliegen, als sie uns von Bachs erhaltenen Passionen vertraut ist. Grauns unbekannter Textdichter verwendet anstelle des reinen Bibeltextes in den Rezitativen freie Dichtung, die zwar zentrale Elemente der biblischen Erzählung im Hintergrund erkennen lässt, die Handlung aber eigentlich als bekannt voraussetzt. Diese lyrischen Betrachtungen zielen – weitgehend in der Ich-Form formuliert – vielmehr darauf ab, das Leiden Christi zu betrachten und seinen Nutzen für uns Menschen zu vergegenwärtigen. In den Arien wird meist ein bestimmter Aspekt aus dem Rezitativ vertieft, während vor allem im ersten Teil die expressiven Chöre den leidenden Messias des Neuen Testaments mit dem sogenannten Gottesknecht (Jesaja 53) des Alten Testaments verbinden.

Sollte und kann man Passionsmusik dieser Art heute mit einem Knabenchor, mit Kindern und Jugendlichen, überhaupt aufführen?

Die Beschäftigung mit der Musik und ihren biblischen und gedichteten Texten bietet uns den Anlass, den Sängern wesentliche Elemente der Passionsgeschichte zu erzählen: Wer ist eigentlich Pilatus? Wie kommt der König Herodes, den wir aus der Weihnachtsgeschichte kennen, in diese Erzählung? Was sind Schächer? Was hat es mit dem Vorhang im Tempel auf sich? Aus der Beschäftigung mit der biblischen Geschichte bzw. den daraus entstandenen Versen ergeben sich dann natürlich auch theologische Fragen: Wie ist das mit der Schuldfrage (z. B. Nr. 12: „Du trägst die Strafen meiner Schuld“) und dem Opfer? Wir finden im Text eine relativ eindeutige Haltung dazu, die unserer Welt heute zum größten Teil sehr fern und fremd ist, insbesondere der Erlebniswelt unserer (Chor-)Jungen. Daraus ergibt sich die vielleicht schwierigste Aufgabe in der Beschäftigung mit dieser Musik: dafür zu sorgen, dass aus dem Verständnis der Texte Empathie und auch Verständnis für die aus dem Blickwinkel der Jungen allzu „traurige Musik“ erwachsen kann.

Dem titelgebenden Eingangssatz liegt mit seinem Verweis auf den Keltertreter, der schon in der alten Kirche auf den leidenden Christus bezogen wurde und zugleich der Richter ist, auf das grausame Gerichtshandeln Gottes und auf das mit Israel verfeindete Brudervolk Edom ein verstörender Text des Alten Testaments zugrunde. Theologisch gesehen steht diese Passion in allen ihren Textebenen noch sehr in der reformatorischen Tradition des 16. und 17. Jahrhunderts: Christi Leidensweg soll nicht nur erzählt, sondern uns (auch durch Musik) ausgelegt werden, um Ursache, Nutzen und Folge des Leidens zu betrachten. Ganz besonders deutlich übernehmen dies hier die sieben Strophen des Liedes „Christus, der uns selig macht“, die der Bearbeiter dem ursprünglichen Graunschen Werk hinzugefügt hat. Sie bilden den eigentlichen „Erzählfaden“ und berichten als Liedpassion und Tagzeitenlied von den verschiedenen Stationen des Leidensweges Christi. Das Lied mit seiner eher herben Sprache stammt aus der Reformationszeit, die Texte der Arien und Rezitative mit ihren oft eindringlichen Schilderungen von Marter und Qualen hängen noch dem Barock an.

Ist diese Sprache heute verständlich oder überhaupt zumutbar?

Die Kritik an der Dichtung des 17. und 18. Jahrhunderts halte ich für nicht gerechtfertigt. Meines Erachtens ist es anmaßend, sich über den Sprachstil der Zeit zu erheben. Was ich zunächst feststellen kann, ist, dass sich die Dichter jederzeit bewusst Gedanken gemacht haben. Der Anspruch, einen Bezug zur Sprache und Denkweise der Bibel zu finden, ist immer zu spüren. Ganz wichtig ist es aber, den Jungen immer wieder zu erklären, was unverständliche Stellen heißen könnten, gemeinsam zu überlegen, wie wir es heute ausdrücken würden. Diese Auseinandersetzung lehrt uns einiges über unsere Sprachentwicklung und sorgt nicht zuletzt für eine hilfreiche Horizonterweiterung.

Eine Horizonterweiterung bietet dieses Pasticcio auch für die Musikforschung. Noch immer sind viele Fragen ungeklärt. Wer war nun der Bearbeiter? Wir vermuten, dass er aus dem Umkreis Bachs stammt. Hat Bach in Leipzig diese Passion am Ende seines Lebens aufgeführt oder sie in Leipzig erleben können? Immer wieder diskutiert werden die drei Bachschen bzw. ihm zugeschriebenen oder von ihm bearbeiteten Sätze in diesem Werk. Sind sie ursprünglich Teile einer weiteren Passionsmusik des Thomaskantors gewesen, die heute verloren ist? Gehen auch die anonymen Choralstrophen auf Bach zurück – oder hat sie dessen Schüler und Schwiegersohn Johann Christoph Altnickol geschrieben? Diese und andere Fragen sorgen dafür, dass das Pasticcio heute ausgesprochen selten aufgeführt wird.

Was macht die musikalische Arbeit an dieser Passionskantate so besonders?

Zusammengefasst könnte man mit der Frage des Pilatus aus der Passionsgeschichte antworten: Was ist Wahrheit? Jeder kennt diesen Umstand: Eine Geschichte wird erzählt und weitererzählt und wieder weitererzählt – und oft sind wir am Ende erstaunt, was herausgekommen ist. Ein wenig vergleichbar ist es mit unserer Passionsmusik: Es gab eine bekannte Kantate von Graun, jemand hat ihr Musik von Telemann, Bach und anderen hinzufügt. Diese (nicht mehr vorhandene) Partitur wurde wieder abgeschrieben und liegt uns heute vor. Hier haben neben den Komponisten verschiedene Menschen als Schreiber und Bearbeiter mitgewirkt: Johann Christoph Altnickol, sein Schüler Johann Christoph Farlau, ein wenig auch Carl Philipp Emanuel Bach. Bei der Beschäftigung heute entdecken wir nun einige Ungereimtheiten und stehen vor der Frage: Nehmen wir sie hin oder versuchen wir, „die Wahrheit“ zu finden? Ich habe mich bewusst dafür entschieden, nicht in allen Punkten der Partitur zu folgen, sondern offensichtliche Fehler zu korrigieren, einige Textänderungen rückgängig zu machen und zum Beispiel ein Rezitativ-Arienpaar, das ursprünglich von Graun für Sopran gedacht war, in der Pasticcio-Fassung aber dem Tenor zugedacht wurde, dem Sopran wieder zurück zu geben.

Offenbar gab es in der Mitte des 18. Jahrhundert nicht nur eine Aufgeschlossenheit gegenüber ungewöhnlichen und inhomogenen Textentwürfen – es gab auch unter Musikern keine Scheu, ältere und neue „Originale“ zu verändern, um sie den Bedürfnissen und Bedingungen der jeweiligen Zeit und des konkreten Orts anzupassen. Das konnte eigene, aber auch fremde Werke betreffen. Maßgeblich war, dass die erklingende Musik ihren Hörern etwas zu sagen hatte, ihre Wirkung entfaltete. Das erhoffen wir uns trotz der vielen ungelösten Rätsel auch für unsere Aufführung.

Cordula Timm-Hartmann, März 2019

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